Original


Geometrische Struktur
und kubistischer Bildraum

Bernd Schäfer


Von Anfang an ist die Feststellung eines geometrischen Formcharakters mit dem Kubismus verbunden. Vauxcelles spricht 1908 von "geometrischen Schemata"[1] bei Georges Braque, Charles Morice im gleichen Zusammenhang von einem "geometrischen a-priori"[2]. Diese Wahrnehmung geometrischer Strukturen setzt sich fort, zusammen mit ungefähren und durchaus widerstreitenden Meinungen und Spekulationen über die Beschaffenheit dieser Formen, ihre Bedeutung und die Relevanz im bildnerischen Prozeß und für das Bildganze, bis hin zur Meinung Kahnweilers, der sie als eine nebensächlichen Aspekt herabgesetzt sehen will[3]. Ich bin der Meinung, daß einem geometrischen Konzept eine bedeutende Rolle bei der Entwicklung der kubistischen Bildsprache zukommt. Abgesehen von einer Ermittlung bestimmter geometrischer Formen und ihrer Kontinuität im Werk Picassos, die ich an anderer Stelle verfolgt habe, gibt es stilistische Merkmale des Kubismus, die indirekt auf ihre Begründung aus solchen Strukturen verweisen. Die Darstellung von Raum und Körper, wie sie von Daniel-Henry Kahnweiler beschrieben wird, gehört in diesen Bereich.

Kahnweilers Definition des kubistischen "Bildraumes"[4] ist treffend. An der Stelle des perspektivischen Raumes, der theoretisch unbegrenzten Öffnung der Bildfläche nach hinten, sieht er im Kubismus ein regelrecht gegensätzliches Prinzip verwirklicht. Die Kubisten "verzichteten auf den »geometrischen Raum«, (...) auf Leone Battista Albertis Linearperspektive. Statt dessen schlossen sie das Bild durch einen festen Hintergrund ab, von dem sich die Körper abhoben, und ließen so einen sorgfältig eingerichteten Raum von geringer Tiefe entstehen"[5]. An die Stelle der scheinräumlichen Öffnung der Bildfläche nach hinten, setzen die Kubisten ein "Relief" auf oder vor einer Fläche, dieses selbstverständlich genau so scheinräumlich wie die perspektivische Öffnung, allerdings, ein wesentlicher Unterschied, von der Fläche auf den Betrachter zu gerichtet, und nicht von ihm hinwegführend:

"Die Darstellung der Lage der Dinge im Raume geschieht so: Anstatt von einem angenommenen Vordergrunde auszugehen und von diesem aus durch perspektivische Mittel eine scheinbare Tiefe vorzutäuschen, geht der Maler von einem festgelegten und dargestellten Hintergrunde aus. Von diesem ausgehend, arbeitet nun der Maler nach vorne, in einer Art Formenschema (...). Diese Anordnung wird (...) ein deutliches plastisches Bild ergeben."[6]

Kahnweilers Ausführungen sind in den Gemälden Picassos leicht zu verfolgen. Ein Bild wie Stilleben mit Schnapsflasche zeigt in der rhythmischen "Brechung" der Flächen, im Auf-und-Ab benachbarter Formen, den "geschlossenen Raum, aus dem die Gegenstände »nach vorn traten«, auf den Betrachter zukamen."[7]

Anstelle des sich nach hinten öffnenden perspektivischen Tiefenraumes entsteht das "Relief" vor dem "festgelegten und dargestellten Hintergrunde".

Daß geometrische Formen bei dieser Vorgehensweise eine Rolle spielen, wird schon aus den Worten Kahnweilers deutlich. Denn wenn er, um bei einem oben geführten Zitat anzuknüpfen, das kubistische "Formenschema" beschreibt, so charakterisiert er es als eine Anordnung geometrischer Figuren:

" Wenn aber nur dieses Formenschema vorhanden wäre, so wäre es unmöglich, etwas »Dargestelltes« aus der Außenwelt in dem Gemälde zu sehen. Es würde einfach als eine Anordnung von Flächen, Zylindern, Vierecken usw. gesehen werden."[8]

Innerhalb dieser gegebenen Formen ist es zunächst, vor Erfindung der »plans superposés«, wenn man Kahnweiler folgt[9], ein konventionelles Mittel, das Hell-Dunkel, mit dem der Eindruck von Lichtwirkung auf Körpern, dadurch scheinbare Plastizität, illusionistisch hervorgerufen wird, welches der Darstellung von Raum und Volumen dient. Picasso " (...) mußte (...) eine Zeitlang wieder auf die Lichtführung zurückgreifen um die Formen zu veranschaulichen. Der Kubismus verzichtete also zunächst nicht völlig auf das Licht, benutzte es aber nur als Mittel zum Zweck."[10]

Und Kahnweiler präzisiert, daß das konventionelle Mittel nicht in gleicher Weise wie früher als gerichtetes, die Komposition einheitlich durchziehendes und vom Standpunkt des Naturalismus plausibles "Licht" benutzt wird. Denn das "Licht ist nie mehr als ein Mittel zur Formgebung, als Helldunkel, (...). Es läßt sich in diesen Gemälden nicht mehr sagen, das »Licht komme von der und der Seite«, so vollkommen ist es zum Mittel geworden."[11]

Kahnweiler spricht also nur aus einem traditionellen Verständnis des Hell-Dunkel von "Licht". Denn im kubistischen Bild ist das "Licht", besser gesagt, das kontrastierende oder über einen Verlauf vermittelnde Hell-Dunkel, ein Mittel Formen hervorzurufen, mit dem Nebeneffekt scheinbarer Beleuchtung des Dargestellten. Zusammenfassend gesagt, entsteht die kubistische Darstellung von Körper und Raum offenbar in erster Linie durch das Mittel der Helligkeitskontraste zwischen Flächenformen von geometrischer Grundstruktur.

Marianne L. Teuber macht den von Kahnweiler beschriebenen flachen Reliefraum zum Ausgangspunkt einer interessanten Untersuchung, indem sie dort wahrnehmungspsychologische Phänomene lokalisiert und deren bildnerische Anwendung bei Picasso und Braque feststellt.[12] Dabei bestätigt die Autorin, von der Betrachtung kubistischer Werke des Jahres 1908 ausgehend, die Darstellung Kahnweilers:

"In beiden Fällen, bei Braque und bei Picasso, kommen die Formen von einer Hintergrundfläche nach vorn. Dies ist der neue kubistische Bildraum, den Kahnweiler 1915 beschrieb und der von uns als ein Kriterium des Kubismus angesehen wurde. Diese nach vorn heraustretende isometrische Perspektive ist das genaue Gegenteil von der Renaissanceperspektive, die von einem Vordergrund ausgeht und mit konvergierenden Fluchtlinien eine Tiefe auf der Fläche simuliert." [13]

Über die reine Feststellung hinausgehend aber, fragt sie nach den Grundlagen des neuen Raumes, denn das "Hervortreten der Formen von einer festen Hintergrundfläche kann als ein Kriterium des Kubismus angesehen werden. Wo kam diese Raumauffassung her? Sie ist oft beschrieben, aber nicht erklärt worden."[14]

In der Verfolgung dieser Frage, stellt Teuber zunächst die Ähnlichkeit bestimmter kubistischer Formlösungen mit Phänomenen aus dem Bereich einer sich im späten 19.Jahrhundert etablierenden Wahrnehmungspsychologie fest[15] , um daraus letztlich den theoretischen Zusammenhang beider Bereiche abzuleiten: "(Wir sollten) Picassos Formen mit einer Gruppe von Reliefperspektiven vergleichen, die sich nicht in einem französischen Text finden, sondern in der zweibändigen Ausgabe von William James' "Principles of Psychology" von 1890.[16] Und sie stellt fest: "William James illustriert in seinem Kapitel über die Raumwahrnehmung (The Perception of Space) eine Reihe von Experimenten, die ihn interessierten. Sie sind typisch für James und erscheinen in umgewandelter Form in Picassos Gemälden und Zeichnungen von 1907 bis 1909."[17]

Teubers Ansicht steht nicht allein. Die Beobachtung, daß in kubistischen Bildern räumlich ambivalente Formkomplexe vorliegen können, die manchen aus der Wahrnehmungspsychologie bekannten Figuren vergleichbar sind, wird von anderen bestätigt. Gombrich beispielsweise beschreibt den Widerstand konsequenter räumlicher Deutung durch ein ständiges "Umspringen" von positiver und negativer Formerscheinung und weist darauf hin, daß die Experimentalpsychologie diesen "Effekt an einer Figur demonstriert, die unter dem Namen >Thiérys Figur< bekannt ist. Unsere Deutung dieser Figur springt immer wieder um, da die Widersprüche, die jeder Interpretation innewohnen, uns zwingen, jede Lesart sofort zugunsten einer anderen aufzugeben, die sich dann sofort als ebenso widerspruchsvoll erweist".[18] Und er schließt im Bezug auf den Kubismus: "Ich glaube, daß Thiérys Figur die Quintessenz des Kubismus enthält."[19]

Über Gombrich hinausgehend aber sieht Teuber auf der Suche nach einer historischen Herleitung und Begründung der kubistischen Formensprache, die direkte Abhängigkeit von Theorien der Wahrnehmungspsychologie des späten 19.Jahrhunderts.[20] Ihre These muß kurz vorgestellt werden, soll aber auf den Picasso direkt betreffenden Zusammenhang beschränkt sein. Die Autorin setzt einige Illustrationen aus dem zweibändigen Werk The Principles of Psychology von William James[21], in denen die oben genannten Möglichkeiten ambivalenter Raumdeutung veranschaulicht sind, in Verbindung zu ähnlich deutbaren Formen in Gemälden Picassos. Sie bezieht sich bei James insbesondere auf die Illustration der "gefalteten Visitenkarte", eine Figur, die gleichermaßen, ständig umspringend, konkav und konvex deutbar ist, und deren Formmerkmale sich bei Picasso finden. Die dabei von Teuber herangezogenen kubistischen Werke belegen eindrucksvoll die Wirkung der durch die Wahrnehmungspsychologie beschriebenen Formphänomene.

Deutlich beispielsweise prägt sich der "Klapp-Effekt" in einer von der Autorin angeführten Landschaft von 1908 aus.

(Abb.2.A.) (2.B.)

Auch andere Bilder Picassos aus diesen Jahren belegen Teubers Beobachtung, wie man bei einer Durchsicht des Werkes feststellen kann, insbesondere die " Serie von Frauenköpfen, die Picasso 1909 während des Sommers in Horta de Ebro in Spanien konstruierte. (...). Die Stirn ist nach der Form des Mach-James-Experimentes gestaltet, und die Augenbrauen treten in ähnlicher Form hervor; (...)."[22] In der Beobachtung der Formphänomene also bemerkt Teuber Zutreffendes, und Gombrichs Ansicht unterstreicht dies. Während Gombrich aber eine Vergleichbarkeit der verschiedenen Formen in ihrer Wirkung auf einen Betrachter feststellt, setzt die Autorin einen ursächlichen Zusammenhang voraus und sieht James' wahrnehmungspsychologische Figur als einen tatsächlichen Ausgangspunkt für Picassos frühen Kubismus an. In einer spekulativen und und letztlich wohl nicht tragfähigen Argumentation wird, über die Vermittlerfigur Gertrude Steins, der Kontakt Picassos mit den Illustrationen in James' The Principles of Psychology im Jahre 1906 hergestellt.[23]

Bei allen zutreffenden Übereinstimmungen im Bereich einiger Formphänomene ist es aber gegen jede Wahrscheinlichkeit, daß Picassos früher Kubismus dieser Quelle entstammen soll. Die wenigen, den Text des zweiten Bandes illustrierenden Figuren in James' Psychology können wohl kaum die Vielfalt und auch den Umfang des kubistischen Werkes der ersten Jahre begründen. Es spricht zudem gegen die künstlerische Erfahrung, daß aus der Kenntnis eines ambivalent deutbaren räumlichen "Klapp-Effektes", aus einem theoretischen Vorsatz, als quasi "Kopfgeburt" ein neuer künstlerischer Stil entsteht. Denn, wie Kandinsky sagt: "In der Kunst geht nie die Theorie voraus, und zieht die Praxis nie nach sich, sondern umgekehrt." [24] Und besonders einer Begründung des Kubismus aus kunstfremden theoretischen Quellen ist entgegenzuhalten, daß Picasso bekanntermaßen solchen Theorien fern stand. "Ich habe Picasso nie viel lesen sehen. Die Malerei allein beschäftigte ihn ganz und nahm mehr und mehr alle seine Zeit in Anspruch", berichtet Fernande Olivier aus den frühen Jahren.[25]

Hauptsächlich aber sind die von Teuber beschriebenen formpsychologischen Aspekte, die über die Vermittlung der Geschwister Stein Ende 1906 auf Picasso gewirkt haben sollen, im nachfolgenden, den Kubismus begründenden Hauptwerk von 1907, den Demoiselles d'Avignon, nicht festzustellen. Kahnweiler bestätigt dies. "Nachdem Picasso im rechten Teil der Demoiselles d'Avignon versucht hatte, die Formen durch ein anderes Mittel als das Helldunkel wiederzugeben, mußte er eine Zeitlang wieder auf die Lichtführung zurückgreifen um die Formen zu veranschaulichen"[26], schreibt er dazu. Und an anderer Stelle, bei Beschreibung der Situation im Jahre 1908: "Das Licht ist nie mehr als ein Mittel zur Formgebung, als Helldunkel, denn der Versuch der Formgebung durch die Zeichnung, der sich 1907 nicht hatte durchführen lassen, ist für den Augenblick beiseite gelassen."[27] Er unterscheidet also die Arbeit von 1907 ausdrücklich von den nachfolgenden Arbeiten mit dem beschriebenen kubistischen "Raum", indem er feststellt, daß dort nicht das "Licht", er meint damit immer das Hell-Dunkel, als formbildendes Mittel eingesetzt ist, sondern die "Zeichnung". Das heißt aber, da das kontrastierende Hell-Dunkel den "Klapp-Effekt" hervorbringt, daß Picasso in den Demoiselles d' Avignon andere Ziele verfolgt und der Kubismus nicht aus dem wahrnehmungspsychologischen Effekt als Ursache entstanden sein kann. Die Entdeckung dieses Mittels ist also sekundär als Resultat aus einer vorangehenden bildnerischen Problemsetzung zu sehen.

Auch wenn James' wahrnehmungspsychologische Illustrationen als Ursache für Picassos frühen Kubismus daher wohl abzulehnen sind, so bleibt doch die faszinierende Übereinstimmung der Formphänomene, der ambivalenten räumlich-körperhaften Rezeptionsmöglichkeiten als Tatsache bestehen. Im Gegensatz aber zu Teubers Versuch, dies auf den Einfluß zeitgenössischer psychologischer Theorien des ausgehenden 19. Jahrhunderts zurückzuführen, sieht Gombrich seinerseits einen ganz anderen Zusammenhang. Er dokumentiert für die antike Mosaikkunst die Kenntnis jener von den Kubisten angewandten Effekte, die in den Figuren der Wahrnehmungspsychologen veranschaulicht sind und schreibt dazu:

"Manche der Effekte, die die Kubisten für ihre Zwecke auszunützen verstanden, waren an sich nicht neu: aber früher führten sie ein verhältnismäßig bescheidenes Dasein in der Ornamentik. Die Mosaikkünstler der Antike (...) verstanden sich auch sehr gut auf das Ausnützen von Mehrdeutigkeiten, (...). Wir haben schon gesehen, daß sie die mehrdeutigen Konfigurationen kannten, die von den Gestaltpsychologen als beliebte Beispiele herangezogen werden. Darüber hinaus waren aber die Meister von Antiochia und Rom manchmal nicht weniger darauf bedacht, eine konsequente räumliche Deutung ihrer dekorativen Schöpfungen zu verhindern, als die französischen Kubisten des zwanzigsten Jahrhunderts."[28]

Das bei Gombrich als Beispiel abgebildete Fußbodenmosaik des 2.Jahrhunderts[29] bezieht seinen Reiz für den Betrachter daraus, daß auf der Basis einer ornamental-geometrischen Gliederung, durch hell-dunkel kontrastierende Einfärbung des Flächenrasters, ein scheinbar dreidimensionales Würfelmuster entsteht, welches räumlich ambivalent wahrnehmbar ist.

(Abb.3.A.) (3.B.)

Die gleiche Form ist sowohl konkav als auch konvex zu lesen, wechselt ihre Erscheinung zwischen Auf- und Untersicht. Das antike Mosaik nutzt exakt jenes wahrnehmungspsychologische Phänomen, welches in James' The Principles of Psychology anhand einer Treppe veranschaulicht ist. Im übrigen entspricht der mögliche Wechsel zwischen positiver und negativer Lesart der Einzelform dort, dem von James an der "Visitenkarte" demonstrierten Effekt.

Auch Willy Rotzler bemerkt in seiner Geschichte der konstruktiven Kunst, daß im kunsthandwerklichen Bereich und in der Ornamentik eine lange und kontinuierliche Tradition von Formen auszumachen ist, die in der Regel der Wahrnehmungspsychologie zugerechnet werden. Er bezieht sich dabei zunächst ebenso auf die antike Mosaikkunst[30] und stellt Parallelen zur modernen Kunst fest.

"Ein Feld, auf dem sich die elementare Freude an geometrischer Flächengestaltung lebhaft bekundet, ist die Mosaikkunst. (Es) (...) finden sich auf Fussböden griechischer, vor allem aber römischer Bauanlagen Mosaiken, die oft unter Verzicht auf die Buntfarbe in reinen Schwarzweiss-Kompositionen die Fläche bedecken. Diese Flächenmuster werden durch Addition oder Kombination geometrischer Elementarformen (...) gebildet. Dabei sind Möglichkeiten der physiologischen Optik genutzt, denn vielfach wird durch eine geschickte Kombination weisser und schwarzer Formelemente eine Scheinkörperlichkeit erzielt, die gemeinhin als eine Erfindung der «Op Art» der Jahre nach 1950 gilt."[31]

Rotzler spricht an, daß die wechselweise deutbaren, ebenso verwirrend wie reizvoll auf einen Betrachter wirkenden Formzusammenhänge, zweifelsohne aus den Vorgaben und Möglichkeiten einer geometrischen Flächengliederung resultieren. Das mit der Wahrnehmung des Rezipienten spielende Würfelraster des antiken Mosaiks ist daher auch nicht auf die antike Kunst beschränkt. Rotzler bemerkt dies, wenn er darauf verweist, daß die "Durchbrechung der Fläche durch rein optische Effekte (...) von der Spätantike ins abendländische Mittelalter überliefert worden (ist). Mosaik- und Fliesenmuster zahlreicher hoch- und spätmittelalterlicher Kirchenpavimente führen (...) auf ingeniöse Weise diese Kunst der Flächenstrukturierung weiter."[32]

Man muß Rotzlers Feststellung allerdings erweitern, denn diese Art Formen ist in allen Bereichen der angewandten Kunst anzutreffen, die sich mit geometrischer Flächengliederung und den sich daraus eröffnenden optischen Möglichkeiten beschäftigen. So soll eine Vorlage für Intarsienarbeit aus dem 18.Jahrhundert herangezogen werden, deren rechts gezeigtes Gliederungsschema dem von Gombrich herangezogenen antiken Mosaik genau entspricht, dessen linke Hälfte, bei identischer geometrischer Struktur, eine Variante zeigt .

(Abb.3.C.)

Bei räumlich ebenso wechselhafter Lesart sind links die Würfel stärker voneinander getrennt, während sie sich auf der rechten Seite zu wechselnden Treppenfolgen zusammenschließen und damit der bei James abgebildeten Figur entsprechen. Drei weitere Beispiele des 18.Jahrhunderts sollen die verbreitete Anwendung dieser optischen Effekte in der Ornamentik über Antike und Mittelalter hinaus illustrieren. Zunächst ein auch als Flächenornament lesbarer Fußboden, in dem sich der "Treppenwürfel", zur Quaderform gestreckt, bemerken läßt (Abb.4.A.).Ein zweiter Fußboden zeigt die variierte Würfelform auf rundem Ausgangskonzept angelegt (Abb.4.B.). Zuletzt, aus einem anderen kunsthandwerklichen Bereich, der gleiche optische Effekt als Intarsienfeld an einem Möbelstück (Abb.4.C.).

(Abb.4.A.) (Abb.4.B.) (Abb.4.C.)

Es wurde oben schon bemerkt, daß das Vor- und Zurückspringen der benachbarten Flächen innerhalb der "Treppenwürfel" dem von James an der Visitenkarte demonstrierten Effekt gleicht. Unterdrückt man den sich stark vordrängenden Eindruck dreidimensionaler Würfel und Treppungen, ist es leicht möglich, die so gegliederten Flächen als eine Folge von Zick-Zack-Bändern zu "lesen". In ihrem räumlich ambivalenten Verhalten entsprechen die Bänder gewissermaßen einer Reihung James'scher "Visitenkarten". Da also auch dieser optische Effekt in den Möglichkeiten einer geometrischen Flächengliederung begründet liegt, überrascht es nicht, daß er im Bereich der ornamentalen Formen den Künstlern längst vertraut ist. So kennt beispielsweise die romanische Wandmalerei die Möglichkeit hell-dunkel kontrastierender Flächenfüllung bei rahmenden Zick-Zack-Bändern, um das von James demonstrierte wahrnehmungspsychologische Phänomen hervorzurufen[33] (Abb. 5.A./5.B.).

Eine Vorlage für Intarsienarbeit, die André Jacob Roubos Werk L'Art du menuisier aus der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts entstammt, belegt die Kontinuität dieser Form im Bereich der angewandtem Kunst (Abb.5.C.). Roubo, der schon oben im Zusammenhang der "Treppenwürfel" herangezogen wurde, entwickelt dabei durch weitere Teilung eine etwas komplexere, räumlich sich aber in gleicher Weise mehrdeutig verhaltende Form.

(Abb.5.A.) (Abb.5.B.) (Abb.5.C.)

Zusammenfassend kann gesagt werden, daß jene von James in The Principles of Psychologiy demonstrierten optischen Effekte im Bereich einer angewandten geometrischen Kunst seit dem Altertum bekannt sind. Der Schein doppeldeutiger Dreidimensionalität, die zwingende Suggestion einer räumlichen Erscheinung, welche gleichzeitig nicht eindeutig festzulegen ist, sondern umspringend sich ständig vom konkaven zum konvexen Eindruck verkehren kann, basiert zunächst auf einer rein flächigen, geometrischen Gliederung des Bildfeldes. Durch hell-dunkel kontrastierende Füllung der so entstandenen Flächen, oder, in anderen Fällen, durch eine verschiedene Richtung der flächenfüllenden Formen, wird das räumlich wirkende Relief entwickelt. Man könnte auch Kahnweilers Worte gebrauchen und sagen, daß durch diese Mittel vor einem "festen Hintergrund" ein " sorgfältig eingerichtete(r) Raum von geringer Tiefe"[34] entsteht.

Gerade die römische Mosaikkunst kennt Flächengliederungen, die im Grundsatz dem frühen kubistischen Reliefraum ähneln, wie er nach Kahnweiler zu charakterisieren ist (Abb.6).

(Abb.6)

Daß sich die Scheinkörperlichkeit und die optischen Effekte tatsächlich aus flachen geometrischen Systemen herleiten, wird durch Untersuchungen zur Gliederungsstruktur römischer Mosaiken verdeutlicht. Denn trotz "der unübersehbaren Menge und Vielfalt der bekannten Mosaiken begegnen immer wieder die gleichen Gliederungssysteme. Dabei lassen sich, entsprechend den zugrunde liegenden geometrischen Figuren, verschiedene Grundtypen und davon abgeleitete Varianten erkennen und zu Gruppen zusammenfassen."[35] Es gibt innerhalb zusammengehöriger Gruppen sowohl flachornamentale Varianten, als auch in verschiedenen Graden scheinräumlich, bzw. räumlich mehrdeutig wirkende Ausformungen des gleichen geometrischen Grundsystems.[36]

Die Entwicklung der "räumlichen" Formen aus einem zweidimensionalen geometrischen Raster bedingt schließlich, daß solche Flächengliederungen nicht nur in mehrdeutiger Weise räumlich, sondern ebenso als Flachornament wahrgenommen werden können. Der Fußboden der Arena-Kapelle in Padua, der im übrigen der in Abb.4 gezeigten Gliederung entspricht, gibt ein Beispiel. Er zeigt eine fortlaufende, sich durchdringende Folge gleicher Grundfiguren, von denen jede dem Rezipienten drei, in ihrer Deutlichkeit gleichberechtigte Lesarten bietet. Rein flächig wahrgenommen ist es ein Sechseck mit eingelagerter Sternform, welches die Grundeinheit bildet. Innerhalb dieser Figur gibt es zwei gleichwertige Möglichkeiten räumlicher Rezeption, wobei durch jeweils verschiedene Wirksamkeit der dunklen Segmente, nämlich wechselnd als Fläche eines Raumkörpers und als Grund, die in der einen Figur konvex gelesenen Formen in der anderen konkav werden und umgekehrt (Abb.7.A./ 7.B.). Eine geometrische Gliederung der Gesamtfläche durch diagonale Parallelen mit waagerechten Linien an den Schnittpunkten stellt die konzeptuelle Grundlage dieser Formen dar (Abb.7.C.). Durch regelmäßige Zusammenfassung mehrerer Rastersegmente, man könnte auch sagen, durch Auslassungen und Unterbrechungen im anfänglichen Linienraster, bildet sich ein flachornamentales Muster, welches in sich schon den Ansatz der räumlich ambivalenten Wahrnehmung birgt (Abb.7.D.).

(Abb.7.A.) (Abb.7.B.) (Abb.7.C.) (Abb.7.D.)

Bei einer Betrachtung von der Seite beispielsweise, um 90 Grad gedreht, liegt die Gliederungsstruktur der antiken "Treppenwürfel" vor. Ebenso ist es möglich senkrecht parallele Folgen "räumlicher" Zick-Zack-Bänder aufzurufen. Letztendlich definiert die hell-dunkel kontrastierende Flächenfüllung den realisierten Formeneindruck.

Teubers Charakterisierung des frühen kubistischen Bildraumes, die bei Kahnweiler ansetzt, mit der Feststellung optischer Effekte, wie sie die Wahrnehmungspsychologie wissenschaftlich beschreibt, ist hervorragend beobachtet und richtig. Sie wird durch Gombrich bekräftigt. Allerdings kann man einer Ableitung der kubistischen Formenwelt Picassos von psychologischen Theorien des späten 19. Jahrhunderts aus den schon angeführten Gründen nicht zustimmen.[37] Ich glaube vielmehr, daß die von Gombrich hergestellte Verbindung von kubistischem Bildraum mit einer ornamentalen geometrischen Flächenkunst weiterreichende Bedeutung besitzt. Denn die Ähnlichkeit optischer Wirkungen legt es nahe, für beide Bereiche eine gemeinsame formale Grundlage anzunehmen. Geht man davon aus, daß für den Kubismus Kahnweiler mit "Aufbau" oder "Architektur" eine geometrische Gliederungsstruktur bezeichnet, so ist die geometrische Flächengliederung das gemeinsame Merkmal.

Wie gezeigt wurde, ist in den mit optischen Effekten arbeitenden Gliederungsystemen, die dem Bereich der geometrischen Ornamentik angehören, der Gegensatz der Flächen, in der Regel ein Hell-Dunkel-Kontrast, für die Entstehung einer räumlichen Wirkung verantwortlich. Picassos bildnerisches Vorgehen muß, geht man von einer geometrischen Flächengliederung als Grundlage auch des Kubismus aus, nahezu zwangsläufig zur Entstehung ähnlicher Effekte führen. Im Kubismus Picassos kommt der Differenzierung von Formen durch einen Hell-Dunkel-Kontrast an den linearen Formgrenzen von Anfang an eine große Bedeutung zu. Wie Franz Mosele nachweist, übernehmen Picasso (und auch Braque) damit ein bildnerisches Mittel Cézannes, welches er bei diesem folgendermaßen charakterisiert:

"Die Objektgrenzen werden durch einen dem Linienverlauf folgenden Hell-Dunkel-Wechsel hervorgehoben, der nicht mehr einer objektiven gerichteten Lichtführung entspricht, sondern einer subjektiven Tendenz, die Objekte an jeder Stelle so deutlich wie möglich sichtbar zu machen und voneinander zu differenzieren."[38]

Und Mosele stellt die Übernahme dieses Mittels in Werken Picassos fest:

"Alle Einzelformen im Bilde sind überdeutlich auseinandergehalten, wobei Picasso ähnlich wie Braque die stärksten Kontraste an die Objektgrenzen legt. Auch bei Picasso kann man nicht mehr von einem gerichteten Licht sprechen. Die beiden Moskauer Bilder sind wie Konzentrate dieses, wie wir gesehen haben, cézannesken Gestaltungsmittels, wobei man festhalten muss, dass es hier bereits den Gesamtcharakter der Bilderscheinung in einem Masse dominiert, wie das bei Cézanne undenkbar wäre."[39]

An einem Bild wie "Landschaft mit Brücke" (Abb.8.) kann man Picassos systematisch konsequente Anwendung des Gestaltungsmittels studieren. Über Verläufe wird das Hell-Dunkel in den Einzelformen so moduliert, daß an den linearen Formgrenzen jeweils helle und dunkle Flächenteile kontrastierend zusammentreffen. Der von Teuber beschriebene optische Effekt entsteht in unmittelbarer Folge.

(Abb.8)

Daß für Picasso in diesem Fall tatsächlich die Formung durch flächige Hell-Dunkel-Kontraste das wesentliche bildnerische Mittel ist, wird durch die Fortentwicklung seiner kubistischen Bildsprache nachdrücklich unterstrichen. Bei Harlekin und Frau mit Collier von 1917 (Abb.9) ist das hell-dunkel modulierte, flache Relief des frühen kubistischen Bildraumes längst durch einen rein flächigen Bildaufbau abgelöst, doch ist das Gestaltungsmittel des flächigen Hell-Dunkel-Kontrastes entlang der Linienschnittgrenzen mit gleicher Konsequenz durchgeführt.

(Abb.9)

Der wechselweise "Umschlag" heller und dunkler Formen entlang durchlaufender Linien verdeutlicht besonders im rechten Bildteil die "Logik" des Mittels, welche sich im frühen Kubismus hinter dem Eindruck ambivalenter Räumlichkeit verbirgt. Wie sehr sich Picasso bei konsequenter Durchsetzung dieser Gestaltungsweise der Formensprache auch der Ornamentik nähert, mag eine Studie, ebenfalls 1917 datiert, verdeutlichen (Abb.10). (Abb.10)

Man muß sich vergegenwärtigen, wie leicht im ornamentalen Bereich aus der geometrischen Gliederung der Fläche, gewissermaßen "automatisch" sich die beschriebenen optischen Effekte ergeben -eine Entdeckung, die zu verschiedensten Zeiten, in unterschiedlichen Bereichen, von verschiedenen Künstlern und Kunsthandwerkern immer wieder gemacht worden ist. Für die Entwicklung der kubistischen Formensprache läßt sich daraus ableiten, daß quasi zwangsläufig auf der Grundlage einer geometrischen "Architektur" - wobei die kubistische Flächenstruktur keineswegs ornamental regelmäßig und symmetrisch anzunehmen ist- es zur Entstehung "optischer Phänomene" beim Versuch der Eingliederung dreidimensionaler Wirklichkeit in die zweidimensionale Gliederungsstruktur des Bildfeldes kommen mußte. Die Formen sind für den Künstler, der sich zunächst aus einem vergleichsweise traditionellen bildnerischen Denken lösen muß, ein geeignetes Mittel. Sie repräsentieren überzeugend, ja zwingend Dreidimensionalität, ohne die Fläche des Bildes im wirklichen Sinn zu verletzen. Die wahrnehmungspsychologischen Effekte sind somit Lösungen im Rahmen einer vorgegebenen bildnerischen Problemsetzung. Die Tatsache, daß die weitere Entwicklung des Kubismus vom "Reliefraum" zu Formen flächiger Raumrepräsentation führt[40], unterstützt die Voraussetzung des flächigen geometrischen Ausgangskonzeptes, in welches auch die neue Formlösung integrierbar ist.


Abbildungsnachweis

Abb.1. Pablo Picasso, Stilleben mit Schnapsflasche. Horta de Ebro, Sommer 1909, Öl auf Leinwand. 81,6x65,4 cm. Zervos 2.1.-173.

Abb.2.A. Illustration aus William James, The Principles of Psychology und Abb.2.B. Pablo Picasso, Landschaft, La Rue-des-Bois, 1908. Gegenübergestellt bei Teuber, S.27,Abb.2 und Abb.10.

Abb.3.A./3.B. Fig.74 aus: William James, The Principles of Psychology.Bd.2. New York:Holt and Company, 1893. S.256. Und: Fußbodenmosaik aus Antiochia. 2.Jh. n.Chr. Aus: E.H.Gombrich: Kunst und Illusion. Stuttgart,Zürich: Belser, 1986. Abb.225, S.294.

Abb.3.C. Vorlage für geometrische Marketerie, aus: André Jacob Roubo, L'Art du menuisier, Paris, 1769-1774. Aus: Helmut Flade: Intarsia. Europäische Einlegekunst aus sechs Jahrhunderten. München: Beck, 1986. S.399.

Abb.4.A. Ingolstadt, St. Maria Victoria, 1732-36. Aus: Hiltrud Kier: Schmuckfußböden in Renaissance und Barock. München:Deutscher Kunstverlag, 1976. Abb.26.

Abb.4.B. Berlin-Charlottenburg, Belvedere, Saal der 1. Etage, um 1788. Aus: Hiltrud Kier: Schmuckfußböden in Renaissance und Barock. München:Deutscher Kunstverlag, 1976. Abb.175.

Abb.4.C. Kommode, um 1760, Pommersfelden. Aus: Hans Huth: Abraham und David Roentgen und ihre Neuwieder Möbelwerkstatt. München:C.H.Beck, 1974. Abb.161.

Abb.5.A.: Fig.72 aus: William James: The Principles of Psychology. Bd.2. Kap.: The Perception of Space. New York: Holt and Company, 1893. S.255. Und Abb.5.B.: Romanisches Bandornament. Detail der Apsiswand, Termeno, San Jacopo/ Tramin, St. Jakob am Kastellaz. Frühes 13.Jh. Aus: Otto Demus: Romanische Wandmalerei. München: Hirmer, 1968. Farbtafel XXXIII.

Abb.5.C. Vorlage für geometrische Marketerie, aus: André Jacob Roubo: L'Art du menuisier. Paris, 1769-1774. Aus: Helmut Flade: Intarsia. Europäische Einlegekunst aus sechs Jahrhunderten. München: Beck, 1986. S.399.

Abb.6. Römisches Mosaik aus Trier. Aus: Klaus Parlasca: Die römische Mosaikkunst in Deutschland. Berlin: Walter de Gruyter & Co, 1959. Tafel 11, Abb.2.

Abb.7.A./ B. Fußboden der Arena-Kapelle, Padua. Aus: Samuel J.Edgerton: The Heritage of Giotto's Geometry. Ithaca and London: Cornell University Press, 1991. Abb.2.22, S.78.

Abb.8. Pablo Picasso, Landschaft mit Brücke , Paris, Frühjahr 1909. Öl auf Leinwand, 81x100cm. Nationalgalerie Prag. Zervos 26-426.

Abb.9. Pablo Picasso, Harlekin und Frau mit Collier , Rom 1917. Öl auf Leinwand. 200x200cm. Zervos 3-23.

Abb.10. Pablo Picasso, Studien, Montrouge 1917. Bleistift. 39,3x27cm. Zervos 3-2. Ausschnitt, rechte Seite des Blattes.


Literaturverzeichnis